Blockade auf der „gefährlichsten Strasse der Welt“
Ein Reisebericht aus Südamerika - Bolivien. Von Thomas Wilken.
Als diese wird sie oft bezeichnet, die Strasse (ein Begriff, der hier nur mit viel Wohlwollen benutzt werden kann) von La Paz nach Coroico, genau genommen der Teil vom Abra de Cumbre in die Yungas bei Coroico. Der erste Teil von La Paz bis zur 4700 Meter hohen Passhöhe ist gut geteert und sehr breit, doch auch hier kann es zu Komplikationen kommen, wie ich selbst feststellen durfte.
Für 2 Tage nach Coroico wollte ich eigentlich, mal wieder etwas Urwaldatmosphäre schnuppern, und in der direkten Umgebung etwas wandern. Die Busse dorthin starten im Stadtteil Villa Fatima, etwas abseits vom Centrum. Es gibt Busse in mehreren Preisklassen, vor allem aber sehr günstige Kleinbusse (ca 15 Bolivianos), deshalb fast ausschließlich von Einheimischen genutzt. Meine Nachfragen werden aber überraschenderweise erst einmal mit nein beantwortet, die Strasse sei gesperrt. In zwei Stunden wäre aber alles wieder in Ordnung und der Bus würde dann fahren. Andere Gesellschaften, ich hatte ja nun reichlich Zeit mir ein günstigeres Unternehmen auszusuchen, machen ihren Fahrgästen weniger Hoffnung und haben alle Fahrten für diesen Tag gestrichen. Dennoch finde ich ein passendes Unternehmen, welches verspricht sobald wie möglich zu fahren, allerdings auch frühestens in zwei Stunden. Der Grund sind massive Straßensperren, diesmal von Campesinos aus dem Tiefland hervorgerufen. Sie demonstrieren dagegen, das die Regierung ihre Interessen zuwenig wahrnimmt.
Von der Ablösung Sanches de Lozada durch Carlos Mesa hatten sie sich mehr versprochen, vielleicht zuviel, denn von einem Tag zum anderen können die massiven wirtschaftlichen Probleme des Landes, gerade im Altiplano und im Oriente natürlich nicht gelöst werden. Schon von 1993-97 war der steinreiche Minenbesitzer Sanches de Lozada Präsident von Bolivien, also ein für bolivianische Verhältnisse nicht unerheblicher Zeitraum. Durch Bildungsreform, Privatisierungen, Umweltgesetze und neoliberale Verwaltungsreformen versuchte er als Reformpräsident in die Geschichte einzugehen, nicht ohne dem Ganzen einen gewissen sozialen Touch zu verleihen. Hintergrund für diese Reformen waren Debatten internationaler Entwicklungsagenturen um die Regierbarkeit des Landes und das Thema Nachhaltigkeit. International heißt in diesem Fall wie so oft fast ausschließlich Agenturen aus den USA (Sitz Washington), deren Meinungen ja von den Europäern leider nur nachgeäfft und abgesegnet werden. Auf diese Agenturen sind die Konzepte zurückzuführen, manchmal auch ganze Gesetzesvorlagen einschließlich der nötigen Budgets. All diese Reformen waren wild umstritten und wurden, wie auch anders, unsensibel von oben durchgesetzt, z.B. mit der zweimaligen Verhängung des Ausnahmezustandes 1995.
Im August 2002 gelang es Lozada trotzdem erneut das Präsidentenamt zu besetzen, mittlerweile über 70 jährig. Völlig konzeptlos steht er wie ein Hampelmann der US-Regierung da und wird immer stärker von der Opposition bedrängt. Als er dann verspätet von angeblichen Verhandlungen über die bolivianische Kokainpolitik in Kombination mit finanziellen Zuwendungen des Gastgebers zurückkehrte, war aller Kredit verspielt. Das er letztendlich über die Erdgasexportpolitik endgültig abgesägt wurde, ist wohl mehr oder weniger Zufall, eher Mittel zum Zweck. Lozada flüchtete sich dann in die USA, wohl weil vor allem da noch größere Arschlöcher anzutreffen sind als er selbst, natürlich nicht ohne sich vorher noch fürstlich aus der ohnehin chronisch angeschlagenen bolivianischen Staatskasse zu bedienen. Seinen Namen „El Gringo“ in Anlehnung an seine weiße Hautfarbe und seine USA-Orientierung, ein Land in dem er sich schon vorher bevorzugt aufgehalten hatte, trug er nicht zu Unrecht.
Das Präsidentenamt übernahm der damalige Vizepräsident Carlos Mesa. Der parteilose und sehr junge Präsident hatte zuerst recht viel Kredit in breiten Teilen der Bevölkerung. Vor allem wohl deswegen, weil er sich früher als Journalist durch einige regierungskritische Publikationen einen Namen gemacht hatte. Dieser Kredit hält natürlich nicht lange, in einem Land in dem sich aus langer geschichtlicher Tradition eine enorme Grundskepsis gegen jede Regierung gebildet hat, sicher alles andere als unbegründet. Mesa gilt als letzter demokratischer Rettungsversuch, auch wenn er schon keine breite gesellschaftliche Basis mehr hinter sich hat. Das macht auch dieser Campesinoprotest deutlich.
Aus den zwei Stunden werden 3 und auch 4, es bleibt also massig Zeit sich in diesem Stadtviertel umzuschauen. Hier sieht man das echte, das indigene La Paz, ohne himmelwärts aufragende Hochhäuser und glasüberzogene Bankgebäude. Dafür aber einfache Straßenstände mit allerlei Fleischangeboten, vor allem Huhn. Dazu kleine Läden ohne hier überflüssige westliche Luxuswaren, stattdessen mit überlebenswichtigen Grundnahrungsmitteln. Eng sind die Gassen hier und sehr alt die Autos die sie befahren. Diese sind aber gegenüber Radfahrern und Fußgängern sehr deutlich in der Minderheit, was dem allgegenwärtigen Chaos keinen Abbruch tut. Eine Einkaufsmeile wie am Prado fehlt natürlich ebenfalls, dafür gibt es hier neben dem Busterminal eine bescheidene öffentliche Toilette. Allzu weit möchte ich mich aber nicht vom Terminal entfernen, denn man weis ja nie, ob und wann der Bus dann startet. Ich bewundere mit welcher Ruhe und Gelassenheit die Indigenas im engen und mit nur wenigen Sitzgelegenheiten ausgestatteten Warteraum sitzen und der Dinge harren, die da noch kommen, oder eben auch nicht. Zeit hat hier eine ganz andere Dimension als bei uns und die Leidensfähigkeit dieser Menschen ist praktisch nicht mehr zu übertreffen. Wann immer ich mich im Warteraum blicken lasse wird mir ein Platz angeboten, in Kombination mit durchwegs freundlichen Gesprächen, keine Spur von Neid oder Missgunst. Als es dann doch noch losgeht, wird mir dann auch wie selbstverständlich die Ehre zuteil, vorne neben dem Fahrer sitzen zu dürfen. Neben der größeren Bewegungsfreiheit ist natürlich auch die Sicht auf die zu durchfahrenden Landschaften von hier aus am Besten, sodass ich gerne annehme. Allzu voll ist der Kleinbus noch nicht, aber man hofft auf das Zusteigen weiterer Fahrgäste unterwegs, was sich dann auch bewahrheitet. Warum ich trotz der nicht unerheblichen Gefahr weiterer Straßensperren in den Bus steige und das doch recht sichere La Paz verlasse ? Erst einmal habe ich nicht nur während der ersten Blockade hinter Puno die Erfahrung gemacht, das ich mich dabei nicht in unmittelbare Gefahr begebe, und außerdem glaube ich durch das allerorts wohlwollende Verhalten der Indigena keine gewaltsamen Aktionen ersterer mir gegenüber fürchten zu brauchen. Zudem erhoffe ich mir dabei natürlich interessante Erlebnisse und zusätzlich weitere Kontakte mit Einheimischen plus mehr Informationen über das Leben der Campesinos. So weit sollte es aber nicht kommen, schon am militärischen Kontrollposten kurz hinter La Paz werden wir ein weiteres Mal gestoppt.
Nun heißt es weiter warten, diesmal inmitten einer immer länger werdenden Warteschlange. Informationen sind kaum zu bekommen, weder von anderen Fahrern, noch von den zumeist nutzlos herumstehenden Wachmännern. Ein gewaltiges Aufgebot an Polizei und auch Militär hat sich mittlerweile hier eingefunden, ohne aber wirklich etwas zu bewirken. Sie scheinen sich auch nicht allzu sehr zu bemühen, was wohl das Beste ist, so wird nämlich nicht unnötig Gewalt in eine eigentlich friedliche Demonstration getragen. Eine wirkliche Bedrohung besteht nicht, früher hätten die Militärs wohl trotzdem von ihren Waffen gebrauch gemacht, also immerhin ein kleiner Fortschritt.
Erstmal vertreibe ich mir die Zeit mit einem Pollo, denn neben einigen ärmlichen Hütten sind auch ein paar Straßenhändler hier anzutreffen, heute mit großem Erfolg, gerade Lebensmittel sind der Renner.
Doch plötzlich geht es weiter, einen Schleichweg soll es geben, meint unser Fahrer, also versuchen wir ihn. Zuerst geht es vergleichsweise zügig weiter, eine Schotterpiste leitet durch ein nahe gelegenes Tal. Nach einiger Zeit müssen wir aber wegen Unpassierbarkeit aller anderen Pisten zurück auf die Hauptstrasse. Auch die ist jetzt fast leer, da so ziemlich alle anderen Fahrzeuge in unsere Richtung am Kontrollpunkt aufgehalten werden. Wir hingegen überqueren den Abra de Cumbre, also die Passhöhe. Leider sind die umliegenden Berge von einer dichten Wolkendecke umgeben. Einige Felswände sind trotzdem zu sehen, dazu säumt ein tiefblauer Bergsee die Passhöhe, an dessen Ufer sich ein unscheinbarer Holzbau befindet. Welch ein Paradies für Bergtouren, wie ich erfahre gehört die Hütte der Nationalparkleitung (das Gebiet steht unter Schutz) und lässt Übernachtungen zu. Wir aber bewegen uns nun in engen Serpentinen und weiterhin auf Teerstrasse dem Oriente entgegen. Rechterseits werden mehrere hundert Meter tiefe Abgründe sichtbar, die Vegetation wird zunehmend dichter und üppiger. Leider gilt das Gleiche auch für das Verkehrsaufkommen, schnell ist das Stauende erreicht. Eine schier endlose Schlange aus Bussen, Autos und Lkws reiht sich vor uns auf, wohl alles deutlich vor uns und den Kontrollen gestartete Fahrzeuge. Also wird wieder gestoppt und weiter diskutiert. Nicht unerheblich ist der Verlust für viele Betroffene, zum Beispiel gibt unser Fahrer und zugleich Busbesitzer seinen Fahrgästen das Fahrgeld zurück. Allerdings erst nachdem er zwei Stunden später entschieden hat zurückzufahren, da für heute kein Durchkommen nach Coroico mehr zu erwarten ist. Ich verzichte darauf, habe ich doch einen durchaus interessanten Ausflug erleben dürfen. Dies können sich die Einheimischen natürlich nicht leisten und beharren somit auf ihr Geld.
Auch Lastwagenfahrer und Händler, welche alle auf eigene Rechnung arbeiten, können die Tageseinnahmen für heute vergessen. Der Streik trifft also leider wieder mal nur die ärmeren Teile der Bevölkerung, während die Regierungsmitglieder in ihren Prunkbauten nur über die Medien von den Vorfällen unterrichtet werden. So lässt sich die Situation leicht aussitzen, ist es doch klar, das auch die Streikenden ihren Tagesverdienst verlieren und gerade sie sich das nicht lange leisten können. Deshalb löst sich dieses Problem in ein bis zwei Tagen von alleine, das grundlegende Problem aber, die aussichtslose Situation eines Grossteil der bolivianischen Bevölkerung, bleibt bestehen. Die über 4 Millionen Indigena haben keine Möglichkeiten Veränderungen ihrer Situation der Unterdrückung und Ausbeutung herbeizuführen, obwohl sie ca. 50% der Gesamtbevölkerung ausmachen. Besonders problematisch ist es, das sich die verschiedenen unterdrückten Bevölkerungsschichten nicht solidarisieren. Wie hier behindern Aktionen wie diese nur allzu oft die Erwerbsmöglichkeiten anderer auch benachteiligter Bevölkerungsgruppen, somit überwiegt bei den Businsassen auch Unverständnis. Solidarität mit den Campesinos gibt es wenig, dafür aber deutliche Kritik an dieser Aktion.
Auf dem Rückweg wird ein immer größerer Teil der den Pass umgebenden Berge frei, sodass ich beschließe zurückzukommen. Kurz vor dem Kontrollpunkt müssen dann alle Fahrgäste plötzlich aussteigen, da der Busunternehmer sonst Komplikationen befürchtet. Die meisten fahren mit einem anderen Busunternehmen zurück, während ich mit einem Bolivianer zusammen den Kontrollpunkt völlig unbehelligt zu Fuß überquere. Noch nicht mal meinen Pass brauche ich vorzuzeigen, ich komme mir fast schon ein wenig ignoriert vor. Am nahe gelegenen Parkplatz finde ich dann in einem fast leeren Bus eine Rückfahrgelegenheit nach La Paz. So endet also mein Ausflug in die Yungas. Kein Coroico, und auch die Dschungelpiste habe ich nicht zu Gesicht bekommen. Trotzdem war es ein sehr interessanter Ausflug. In Südamerika kann man halt nicht alles komplett durchplanen, sondern muss die Möglichkeiten nutzen, welche sich gerade bieten, bzw. sich den gerade herrschenden Umständen anpassen. Auch deshalb ist Reisen hier so interessant.