Potosi und die Rudimente der Sklaverei Bolivien Potosi mit Cerro Rico

Potosi und die Rudimente der Sklaverei

Ein Reisebericht aus Südamerika - Bolivien. Von Thomas Wilken.

Die anderen Vier haben mich überredet noch mit nach Potosi zu kommen, eigentlich nicht die schlechteste Idee. So fahren wir dann am nächsten Mittag mit einem völlig überfüllten Bus durch atemberaubende Schluchten und Canyons, vorbei an afrikanisch anmutenden, buschbedeckten Landstrichen und sogar Getreidefeldern. Immer höher zieht sich die durchgehend ordentliche Strasse bis in 4065 Metern Höhe die höchste Großstadt der Welt erreicht ist. Bunt und für bolivianische Verhältnisse erstaunlich modern  wirkt die Stadt, sie ist immer noch eine der wohlhabendsten des Landes. 162.500 Einwohner leben in dieser schmucken Stadt, von zahlreichen prunkvollen Kolonialbauten durchzogen.

Doch nicht darin liegt die Hauptattraktion von Potosi, hinter den Häusern baut sich ein orangefarbener, mit vielfarbigen anderen Gesteinsformationen durchzogener Bergkegel auf, der Cerro Rico. Sumaj Orcko, also heiliger Berg, heißt das Wahrzeichen der Stadt auf Quechua und war einer von zahlreichen Berggottheiten der Inkas. Reicher Berg lautet die Übersetzung aus dem Spanischen und deutet an, warum dieser Berg so besonders ist. Das „reich“ steht für den außerordentlichen Mineralienreichtum des 4829 Meter hohen Giganten, vor allem Silber wurde hier in großen Mengen zu Tage gefördert, und hat großen Reichtum, aber auch viel Elend in die Region gebracht. 

Im April 1545 entdeckte Diego Huallpa als erster das Silber im Berg. Damals wohnte ein Häufchen von 170 Spaniern und 300 Indigena am Fuße des Berges, Villaroel nahm den Berg dann im Namen seiner Majestät Carlos 5 in spanischen Besitz. Durch die Silbergewinnung wurde Potosi zu schnellstwachsenden Stadt Amerikas, die Ausbeutung des Berges wurde unverzüglich in großem Umfang vorangetrieben. Ein Schicksal das er mit den Indios teilte. Ganze Dorfschaften von Hochlandbewohnern wurden in die zahlreichen Bergstollen abkommandiert um sich dort im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode zu arbeiten. Die Mita, ein System der Kollektivarbeit wurde von den Inka übernommen, alle Indianer zwischen 18 und 50 waren dazu verpflichtet, älter wurde sowieso kaum jemand. Um lange Auf- und Abstiege zu vermeiden blieben die Zwangsarbeiter oft eine Woche und länger in den Schächten, Silikose, eine tödliche Lungenkrankheit war die fast unausweichliche Folge, daran starben 7 von 10 Arbeitern.

1573 zählte Potosi schon 120.000 Einwohner, 1650 schon 160.000, mehr als beispielsweise Rom, Madrid oder Paris und war damit die größte Stadt des amerikanischen Doppelkontinentes. Der Sage nach waren sogar die Straßen mit Silber gepflastert, es hieß man könne damit eine Brücke bis nach Madrid bauen.

Spaniens leere Kassen wurden immer weiter mit Silber aufgefüllt, bis 1660 wurden aus dem Berg 16.000 Tonnen herausgeholt, bis heute über 46.000 Tonnen.

Doch irgendwann ist auch der größte Silberstrom versiegt und im 18. Jahrhundert kam dann der Absturz Potosis in die Bedeutungslosigkeit, die Silbervorräte waren so gut wie erschöpft und die Einwohnerzahl sank unter 10.000. Doch auch Zinnerz wurde in großem Maße im Berg gefunden. Zu Silberzeiten noch wertlos, brachte dieses 1913 sog. Zinnbaronen wie Simon Patino, dem deutschstämmigen Mauricio Hochschild oder Carlos Aramayo gewaltige Reichtümer. Ewig hielt auch der Zinnvorrat nicht an und so wurden 1952 die Zinnminen verstaatlicht und 1985 musste die staatliche Gesellschaft Cominbol 20.000 Zinnarbeiter entlassen.

Heute wird der Berg immer noch zur Ader gelassen, obwohl es kaum noch Adern gibt, dafür aber umso mehr Gänge, welche ihn durchziehen wie das Straßennetz von La Paz. Sowohl die Comibol, als auch private Mineros und Bergbaukooperativen wühlen immer noch im Berg herum, allerdings wird er jetzt stückweise gesprengt. Erst viele Tonnen Gestein ergeben einige Kilogramm Erz, man kann Frauen beobachten, die mit dem Hammer Gesteinsbrocken zertrümmern um an die Zinnkörner zu gelangen.

Natürlich haben auch wir die Minen im Programm, man kann einfach per Taxi hinfahren und vor Ort lässt die nächste Führung nicht lange auf sich warten. Cocablätter als Geschenk für die Mineros kaufen fast alle Besucher, um für etwas Abwechslung zu sorgen bringe ich eine Flasche Schnaps mit. „Sie werden dich lieben“, meint unser Führer zu mir, aber das ist arg unwahrscheinlich. Schon passieren wir die ersten Mineros und die Abneigung welche ihre Blicke und auch Gebärden ausdrücken, habe ich bisher in Südamerika noch nicht erlebt. Auch einige Flüche gegen uns meine ich im Hintergrund zu vernehmen. Wer kann es diesen Menschen verdenken, kommen wir doch als reiche Weiße, die sie sensationslüstern bei der Arbeit beobachten. Sehr jung sind einige der hier beteiligten, viele Kinder laufen umher und bieten kleine Mineralien zum Verkauf an.

Eng und stickig sind die Gänge, dazu nicht beleuchtet und mit zahlreichen Felsen durchsetzt. Eben ist das Gelände natürlich auch nicht, sodass deren bloße Begehung in über 4000 Metern Höhe bereits einige Mühe verursacht. Die Vorstellung in dieser Umgebung 10-12 Stunden Schwerstarbeit pro Tag leisten zu müssen, wirkt alles andere als verlockend, vor allem mit einer Entlohnung von durchschnittlich 100 Dollar im Monat. Allein von der staubigen Luft wird mir schlecht, während die Mineros Schubkarren durch die mangelhaft gesicherten Stollen schieben. Allzu deutlich hat sich ihre Situation nicht geändert, seit 1545 die ersten Indios gezwungen wurden in den Stollen zu arbeiten. Damit sie die Höhe und Erschöpfung weniger realisieren, wurde kurzerhand das gerade erlassene Kokaverbot wieder aufgehoben und die Zwangsarbeiter in den Minen zweckgebunden damit versorgt. Dafür lenkte sogar die katholische Kirche ein, welche sich vorher massiv gegen das angeblich halluzinogene Teufelszeug eingesetzt hatte. Viele Mineros wurden sogar gezwungen in den Minen zu übernachten, um sie am Fliehen zu hindern. Unter unmenschlichen Bedingungen mussten sie so lange Silber hacken bis sie verunglückten oder an Erschöpfung starben. Dann wurden sie einfach durch neue Indigena ersetzt. So sollen laut realistischen Schätzungen (u.a. Eduardo Galeano) bis zu 8 Millionen Indigena in den Minen den Tod gefunden haben, und den dürften sie noch als Erlösung empfunden haben nach ihren vorherigen Lebensumständen.

Als „Eingang der Hölle“ bezeichneten die Mineros den Stollenanfang, einer Hölle der sie nie wieder entrinnen konnten. Auch heute noch nicht, obwohl sie mittlerweile freiwillig hier arbeiten, lässt ihre wirtschaftliche Situation keine andere Entscheidung zu, vor allem nicht wenn es eine vielköpfige Familie zu ernähren gilt. Ob diese Art der Absicherung durch die Großfamilie in so armen Regionen der optimale Weg ist, mag dahingestellt sein, ist doch für die Nachkommenschaft das gleiche Leben fast unabwendbar vorbestimmt. Leider hat die Stimme der Schwerstverbrecher der katholischen Kirche immer noch genug Gewicht um ihr Kondomverbot zu verbreiten, obwohl sich ihr Einfluss auch hier mehr und mehr verringert. Diese Tradition der hohen Kinderzahl zu überwinden könnte eine Chance sein, einen Schritt aus der Armut heraus zu machen. Ohne den Minenjob wären aber etliche 1000 Bolivianer unmittelbar dem Tod durch Verhungern ausgesetzt, denn staatliche Unterstützung für Erwerbslose gibt es hier nicht, nur noch Betteln bleibe als Alternative übrig. Diese Situation macht es möglich Arbeiter zu allerniedrigsten Löhnen zu beschäftigen, Armut kennt keine Alternativen.  

!4 jährige sieht man Steine klopfen und transportieren, mit bis zu 14 Kilo auf dem Rücken, dabei liegt der Tagesverdienst oft nicht höher als ein Euro. Wer so früh schon den Grossteil seines Lebens in den Minen verbracht hat, hat keine allzu hohe Lebenserwartung, die Gifte sammeln sich über Jahre im Körper an und bewirken, das die durchschnittliche Lebenserwartung Boliviens von 63 Jahren bei den Mineros noch deutlich unterschritten wird. Viel ihrer Lehmziegelhütten sind direkt am Hang des Berges angesiedelt, beherrscht von einer überdimensionalen Christusfigur, welche über dieses Schreckensszenario schützend die Arme ausbreitet. Diese typisch katholische Heuchelei muss den Arbeitern wie eine gewaltige Provokation vorgekommen sein, aber auch ihr eigener Indigenagott ist präsent. El Tio (der Onkel) ist eine kleine Tonfigur mit einem kleinen Thron im Innern des Stollens. Eine Kippe ziert seinen Mund, während die ganze Figur mit Lametta und Cocablättern bedeckt ist und einen leicht überdimensionalen Penis sein Eigen nennt. Vielleicht ein Fruchtbarkeitssymbol, ähnlich wie Pachamama die Erdenmutter wird auch er reichlich mit dem mitgebrachten Whisky gesegnet. Ob sie das wohl auch machen, wenn sie den Whisky selber bezahlen müssen ? Auf jeden Fall ist er die Antwort der Andengötter auf den christlichen Monotheismus, muss sich wohl auch deshalb in den Untergrund flüchten.

In den Schutz eines völlig durchbohrten und durchlöcherten Berges fristet er ein recht bescheidenes Dasein, das hat er mit dem Cerro gemeinsam, beide haben klar bessere Zeiten hinter sich.

Immerhin ist der Cerro Rico kürzlich zum Weltkulturerbe erklärt worden, pünktlich zur 500 Jahrfeier der „Begegnung der Kulturen“ , der Ausdruck wirkt wie ein Hohn auf alle Angehörigen dieser zerstörten Kulturen. Für sie ist diese Begegnung alles andere als ein Grund zu feiern, sondern der Ursprung allen Übels und das faktische Ende der Entwicklung ihrer Kultur. Nur mehr Rudimente konnten aufrecht erhalten werden, welche die Eroberer aufgrund von Faulheit oder Gewissensberuhigung fortleben ließen. In unserer heutigen angeblich aufgeklärten und humanistischen Zeit ist diese Art von unfreiwilligem Spott nicht nur geschmacklos sondern auch extrem peinlich. Sie zeugt entweder von heuchlerischster Arroganz oder aber himmelschreiender Dummheit und Unkenntnis der Geschichte, beides ist den verantwortlichen Politikern ohne weiteres zuzutrauen. Während man das Wort Nazi als Deutscher praktisch nicht in den Mund nehmen darf, wird eine Verbrechensserie von ähnlichem Ausmaß mit Konsequenzen bis in die Gegenwart, als Großes Ereignis oder gar Heldentat gefeiert. Ich glaube da erübrigt sich jeder Kommentar.

Nach der Minenbesichtigung möchte ich noch eine Wanderung auf den Gipfel des Cerro Rico unternehmen und verabschiede mich von den Anderen, die mit dem Sammeltaxi weiter nach Sucre fahren. Im Hotel wollen wir uns aber noch mal treffen. Doch erst mal mache ich mich über staubige Fahrwege auf in Richtung Christusstatur auf. Ganz wohl war mir nicht, allein in dieser Umgebung, denn  ignorieren kann ich sie nicht die feindseligen Blicke, die mir von vielen Seiten entgegenschlagen. Auch Zurufe der Arbeiter, welche auf den Ladeflächen der Lastwagen sitzen wirken nicht immer freundlich. Aber meine Sorgen sind unbegründet, jeder ist wohl zuerst einmal mit sich selbst beschäftigt. Mühsam schleppe ich mich über die nicht allzu steilen Wege höher, wieder merke ich die Höhe viel mehr als das eigentlich normal wäre, vielleicht hat mir der Aufenthalt in den Schächten nicht gut getan. Trotzdem komme ich auf den deutlichen Wegen gut voran und über am Schluss steilen und weglosen Schutt erreiche ich dann viel zu erschöpft den Gipfel. Der oberste Teil ist nicht mehr befahrbar, wenigstens hier hat der Berg Ruhe vor den Ameisenströmen, welche ihn unentwegt bevölkern. Dachte ich zumindest, aber direkt am Gipfel befindet sich eine Holzhütte mit Solaranlage auf dem Dach. Vom Bewohner aber leider keine Spur, dafür gibt es hier viele verschiedenfarbige Gesteinsarten und phantastische Ausblicke auf das gesamte umliegende Land. Vor allem der Blick nach Osten hat es mir angetan, mehrere schöne Seeaugen sind dort zu finden mit durchaus interessanten Bergzielen darüber. Ich beschließe noch einen Tag in Potosi zu bleiben, um dort eine Wanderung zu unternehmen. Beim Abstieg bekomme ich schon freundlichere Antworten auf mein freundliches Grüßen. Den Arbeitern scheint es eher suspekt zu wirken, das ein Gringo einfach aus Spaß ihren Berg erwandert.

Mit dem Taxi geht es zurück zum Hotel, wo neben Abschiednehmen noch das Organisieren einer Verlängerungsnacht auf dem Programm steht.

Am nächsten Morgen fühle ich mich noch elender als am Vortag, Pizza, Höhe oder noch andere Gründe lautet die Frage, die ich nicht beantworten kann. Trotzdem nehme ich mir ein Taxi und fahre zum Ausgangspunkt meiner geplanten Wanderung. Doch ich schleppe mich mehr vorwärts, als das ich Laufe, das kann doch nicht war sein. Schon nach ein paar hundert Höhenmetern bin ich völlig platt, habe aber auch schon den ersten der Seen erreicht. Weiter hinten thronen interessante Berggipfel, aber auch ein Gewitter meldet sich an, also sowieso keine günstigen Vorraussetzungen für eine längere Tour. Doch diesen und weitere Seen umrunde ich noch, auf nahezu ebenen Pfaden. Glasklar ist das Wasser und kein Mensch in dieser Umgebung unterwegs. Viel Grün gibt es zu sehen mit zahlreichen Tierarten, vor allem Llamas und Alpacas. Fast wie in den Alpen komme ich mir vor, hoch über mir steigt ein Grat an, der zu den ersten Gipfeln führt. Aber immer dunkler werden die Wolken, sodass ich beschließe nach Potosi zurückzukehren. Ein Paradies für Eingehtouren habe ich hier gefunden.

Von Potosi geht es dann mit dem Nachtbus zurück nach La Paz, Bus Cama heißt das Zauberwort, was mir eine sehr erholsame und ruhige Fahrt beschert. Meinem Sitznachbarn muss ich allerdings mal wieder erklären warum es in Deutschland gar nicht so toll ist, wie alle Bolivianer annehmen, den Rest der Fahrt schlafe ich fast durch.