Auszüge aus einem Reiseberichtes von Thomas Wilken / Leseprobe

Tour 40
Piz Vallatscha (3109 m) Adula Alpen
Wildgezackte Pyramide über dem Lukmanierpass

Selbst Kenner der Medelser Berge können mit dem Namen Piz Vallatscha wohl auf Anhieb nicht allzu viel anfangen. Mit „ nördlicher Nachbar des Scopi“ wäre zumindest seine geographische Lage geklärt, mehr Aufklärung über seinen Charakter würde die Aussage bringen „die scharfgeschnittene Pyramide, welche von Disentis aus gesehen direkt über dem Lukmanierpass aufragt“. Von Disentis aus fällt der Berg wirklich sofort ins Auge und müsste mit seinen wildgezackten, ebenmäßig zulaufenden Gratanstiegen eigentlich auf jeden Alpinisten eine ungeheure Anziehungskraft ausüben. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein, gilt der Berg trotz seiner direkten Nähe zum militärisch völlig vereinnahmten Scopi als sehr still. Vielleicht hängt das mit den relativ großen Schwierigkeiten zusammen, welche der Berg bietet. Einen guten Zweier im ausgesetzten Gelände sollte man schon beherrschen, will man sich an dieser wilden, felsigen Berggestalt versuchen. Weniger Geübte sollten sich nicht scheuen ein Seil zum sichern mitzuführen, es handelt sich hier um die wohl schwierigste Tour dieses Buches. Daran ändert auch die Bewertung „leicht“ im SAC-Führer Adula Alpen nichts, welche die Tour meiner Ansicht nach völlig verharmlost. Ich war selbst sehr überrascht, als ich auf Schwierigkeiten stieß, die ich dort niemals erwartet hätte.

Mineralienfreunde können hier interessante Funde machen und werden sich nach der Besteigung bestimmt noch länger im Umkreis des Berges aufhalten. Auch aussichtsmäßig hat der Piz Vallatscha einiges zu bieten, vor allem ungewohnte Blickwinkel in die nicht allzu fernern Berner und Walliser Alpen. Hier wird er allerdings noch vom 90 Meter höheren Scopi getoppt, dem aber dafür die Tiefblicke auf Disentis und das Rheintal fehlen. Dazu ist der Piz Vallatscha bisher von Millitäranlagen aller Art verschont geblieben, nur eine Materialseilbahn zum Scopi kreuzt den Aufstiegsweg.

Ein weiterer Pluspunkt dieses Berges ist der hochgelegene Ausgangspunkt, welcher den fehlenden Stützpunkt überflüssig macht. Schöne Tiefblicke auf den hochgelegenen Lukmanierstausee vermittelt der erste Teil des Anstiegs bzw. der Schlussteil des Abstiegs.

Mit 1916 Metern gehört der Lukmanierpass nicht zu den höchsten seiner Zunft, bietet aber trotzdem einen exzellenten Ausgangspunkt, auch für zahlreiche weitere interessante Bergfahrten wie z.B. de Scopi, den Piz Gannaretsch oder den Piz Rondadura um nur einige zu nennen. Im Winter wird der Pass trotz seiner sehr gut ausgebauten Fahrstrasse zeitweilig geschlossen. Er verbindet Disentis im Vorderrheintal mit Olivone im Tessiner Bleniotal und vermittelt großartige landschaftliche Eindrücke. Übrigens beträgt die maximale Steigung der Passstraße beeindruckende 9%.

Besondere kunst- und kulturhistorische Anziehungskraft vermittelt das im 8. Jahrhundert gegründete Benediktinerkloster St. Martin, welches heute als Wallfahrtsort fungiert. Wie kaum ein anderes Gebäude prägt es das Ortsbild von Disentis. Als Passkloster hatte es den Lukmanier früher für die deutschen Kaiser zu bewachen. Das Kloster, von dem bedeutende bildungspolitische Impulse für die gesamte Surselva und auch zur Entstehung des Kantons Graubünden durch die Förderung und den Zusammenschluss der einzelnen Bünde ausgingen, beherrschte als Fürstsabtei das komplette Bündner Oberland.

Der Wegverlauf:

Direkt an der Staumauer des Lukmanierstausees befindet sich ein kleines Kontrollhäuschen mit Parkmöglichkeit. Nur 100 Meter weiter die Passstraße hinauf folgt dann auch schon das gelbe Schild für die Postautohaltestelle. Vom Parkplatz aus müssen wir zuerst einmal 200 bis 300 Meter zurück in Richtung Disentis auf der Straße zurücklegen, bevor sich Rechts ein schmaler Pfad den Hang hinauf windet. Es empfiehlt sich die Augen offen zu halten, denn weder ein Hinweisschild noch Markierungszeichen zeigen seinen Beginn an. Im Zickzackkurz geht es zwischen Rhododendren und anderen Sträucher hinauf. Grasig ist der Weg, an vielen Stellen nass und nicht immer einfach zu finden. Bunte Blumenfelder am Wegesrand prägen das Landschaftsbild, leider aber auch immer wieder die Pfeiler und Leitungen der Scopi-Materialseilbahn. Dazu gesellen sich später noch rostige Lawinenverbauungen, welche mit ihrem unvergleichlichen Charme den Reiz dieser Landschaft beträchtlich erhöhen und geradezu nach weiteren Bergwaldrodungen schreien. Durch diese anmutige Landschaft schlängelt sich der Pfad hindurch bis nach ca. 500 bis 600 Höhenmetern La Stadera, die Mittelstation der Materialbahn erreicht wird. Zum Glück müssen wir dort nicht ganz hinaufsteigen sondern widmen uns dem Kontrastprogramm, indem wir linkeseitig über Schuttfelder dem Westgrat des Piz Vallatscha zustreben. Wenig einladend wirkt von hier aus der Scopi dessen kabelverzierter Gipfel einer riesigen Wehranlage gleicht. Gut sichtbar befindet sich links von uns ein sehr steiler, trichterförmiger Rasenhang, welcher nach oben hin spitz zuläuft und direkt auf dem Westgrat mündet. Etwas unbequem erreichen wir so die Grathöhe, die wir aber gleich linksseitig wieder verlassen, um kurz danach über grobe Blöck zu ihr zurückzukehren. Immer schmaler und ausgesetzter wird nun der Grat, und einfach ist die Kletterei auch nicht. Eine nach beiden Seiten steil abfallende Schlüsselstelle muss dann überwunden werden, bevor man kurze Zeit später in die mit feinerem Schutt beladene, aber nicht mehr so steile Gipfelwand einsteigt und dort mühsam die letzten 200 Höhenmeter zum Gipfel zurücklegt. Neben interessanten Ausblicken über das gesamte Adulagebiet werden bei klarer Sicht auch alpine Größen wie Monte Rosa, Mischabelgruppe und Walliser Weißhorn sichtbar, die Urner und Berner Alpen lassen sich ebenfalls gut Überblicken. Überragend gibt sich auf der anderen Seite des Rheintales der mächtige Eisklotz des Tödi.

Aufgrund mangelnder Alternativen sollte auch auf dem Aufstiegsweg abgestiegen werden, einer in wilden Sprüngen die Südabhänge hinabstürmenden Ziegenherde brauchen wir nicht nachzueifern. Wer Mineralien finden möchte, kann in das große Schuttal rechts neben dem Grat (südlich) aufsteigen, denn darin dürften sich glasklare Bergkristalle und auch einige dunkelbraune Rauchquarze finden lassen.

Talorte: Disentis (1143 m) ; Curaglia (1400 m) Ausgangspunkt: Staumauer am Lukmanierpass (1891 m)

Zeiten: Staumauer-Piz Vallatscha: 3,5 St.

Abstieg: 2 St.

Höhenunterschiede: Staumauer-Piz Vallatscha: 1120 Hm.

Schwierigkeit: wenig schwierig+ , sehr ausgesetzt, alpine Erfahrung unverzichtbar, eventuell Seil

Stützpunkte: keiner

Übernachtungsmöglichkeiten in Talort: Curaglia: Ferienlager Camona, tel.:            081/9475707       ; Disentis: Ferienlager Center da Sport, tel.:            081/9474434      

ÖPNV-Verbindungen: Von Disentis (direkte Bahnverbindung von Chur) regelmäßige Busverbindungen über den Lukmanier nach Olivone